Seite 16 / Süddeutsche Zeitung Nr. 60 FEUILLETON Montag, 13. März 2000

Es war einmal ein Amerika

 

Das Ende einer Flucht - Clemens Kalischer, der Fotograf des Exils, wird wiederentdeckt. VON ULRIKE BALS

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Es war einmal ein Amerika Das Ende einer Flucht - Clemens Kalischer, der Fotograf des Exils, wird wiederentdeckt. Eine zugige Halle, zwei Mädchen sitzen auf ihren Koffern. Sie sind erschöpft, ihre Augen sind in tiefem Schatten. Eine junge Frau schläft daneben, auf eine Kiste gelehnt. Den Kopf in die Arme gebettet, wie ein müdes Kind. Wann wird die ewige Wanderschaft ein Ende nehmen? "Displaced Persons", hat der amerikanische Fotograf Clemens Kalischer seine Serie von Aufnahmen aus den Jahren 1947-48 betitelt, in der er die Ankunft jüdischer Emigranten in New York festhielt. Die eindringlichen Momentaufnahmen erzählen viele verborgene Geschichten - nicht zuletzt auch die seines eigenen Schicksals.

Clemens Kalischer wird 1921 als Kind jüdischer Eltern bei Lindau am Bodensee geboren. Beunruhigt vom wachsenden Antisemitismus verlässt die Familie 1933 Deutschland. Sie suchen Zuflucht bei Freunden in der Schweiz, aber dort können sie nicht bleiben, und sie ziehen weiter nach Paris. Der Vater findet keine Arbeit, und das wenige Geld, das die Mutter verdient, reicht gerade für ein winziges Zimmer am Gare du Nord.

Weiß schimmert heute das wellig zurückgekämmte Haar von Clemens Kalischer, über der Oberlippe trägt er einen gepflegten Schnauzer, und während er die Bilder seiner Vergangenheit heraufbeschwört, liegen seine Hände gefaltet auf dem Tisch. Mit brüchiger Stimme erzählt er aus seinem Leben, ohne Vorwurf, ohne Bitternis - als sei dies eigentlich gar nicht seine Geschichte, sondern die eines anderen.

Im Sommer 1939 werden alle Ausländer Deutscher Herkunft in Frankreich aufgefordert, sich amtlich zu melden. Die Nachricht erreicht den damals Siebzehnjährigen während seiner Schulferien in einem Zeltcamp. Nicht sicher, ob dies auch für ihn überhaupt gilt, kommt er der Aufforderung nach - und wird unter dem absurden Verdacht der Spionage verhaftet.

Eine irrwitzige Odyssee nimmt ihren Anfang, die ihn kreuz und quer durch Frankreich führt. Sieben Internierungslager hat er hinter sich, als er nach einem mehrtägigen Gewaltmarsch an die Loire mit vielen anderen Häftlingen in einen Güterzug gesperrt wird. "In der Gefangenschaft", erinnert sich Kalischer, "hört die äußere Welt auf zu existieren." Neun Wochen ist der Wagon unterwegs - keiner weiß wohin. Dann werden sie mit Lastwagen zu einem Lager in den Bergen gebracht.

Hier findet Kalischer seine Familie wieder, doch ein weiteres Jahr vergeht, bis sie, 1942, mit einem Notvisum nach Amerika emigrieren können. Sie ziehen nach New York, dort beginnt Clemens Kalischer ein Kunststudium. Doch die Nachwirkungen des Erlebten lähmen ihn, er wird krank und muss mehrere Monate im Bett verbringen.

"Ich war sehr deprimiert über alles, die ganze Menschheit. Glaubte an nichts mehr. Alles war ohne Sinn, ohne Hoffnung. Ich hatte genug gehabt."

Er bricht sein Studium ab und bekommt bei France Press eine Stelle als Junge für alles. Dann beginnt er selbst zu fotografieren. Häuser, Wohnungen, Menschen. "Mich interessierte, wie die Menschen leben, das Wohin." Nach einer ersten Reportage für die France Press wird er freier Mitarbeiter der New York Times, für die er schließlich über 35 Jahre tätig sein wird.

Annähernd eine Millionen Fotografien umfasst Kalischers Gesamtwerk heute, schätzt Denis Brudna, der die gerade im Altonaer Museum in Hamburg gezeigte Ausstellung "Displaced Persons" initiiert hat. Auch das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum widmet dem bisher in Deutschland noch weitgehend unbekannten Fotografen derzeit eine Ausstellung mit Stadtansichten des New York der fünfziger Jahre - sie wird im April im Museum Sankt Tungbert eine Fortsetzung finden.

Dass er einmal wieder nach Deutschland zurückkehren würde, habe er nie geplant, sagt Clemens Kalischer. Lange war ihm seine Muttersprache verhasst - sie zu benützen, bedeutete, zu verleugnen, was geschehen war. Doch Worte sind auch eine Möglichkeit, einander zu verstehen. "Angst und Wut loszuwerden, war für mich sehr wichtig. Es schafft Platz zum Leben", sagt Kalischer: "Sonst muss sich alles ewig wiederholen". ULRIKE BALS

Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, bis 9. April: Clemens Kalischer, New York, Photographien aus den 50er Jahren. - Altonaer Museum Hamburg, bis 2. April: Displaced Persons. - Museum Sankt Tungbert voraussichtlich im April-Juni. 

 

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